Murakami lesen ist wie träumen.
Damit meine ich nicht die Träume, die man hat, wenn man fest schläft. Sondern eher dieses vor-sich-hin-Geträume beim Dösen, mit halb offenen Augen. Und plötzlich zuckt man zusammen, weil man merkt, dass man - wie lange auch immer - gar nicht richtig da war. Sozusagen mal kurz eine völlig andere Welt besucht hat.
Es dauert in solchen Momenten immer ein bisschen, wieder in die harte Realität zurückzukehren. Manchmal dauert es sogar länger als die Phase zwischen Schlafen und Wachwerden, wenn morgens der Wecker klingelt. Man fühlt sich benommen und irritiert, vielleicht auch etwas schwermütig, dass der Traum schon vorbei ist. Oder dass es doch keine Realität war, obwohl es sich wirklich und wahrhaftig eben noch so angefühlt hat.
Kennen wir alle, dieses Gefühl.
Und das ist Murakami lesen.
"Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" ist das elfte Werk, das ich mittlerweile von Haruki Murakami gelesen habe. Ich glaube, diesen Rekord hält kein anderer Schriftsteller in meinem Bücherregal.
Murakami hat eine leicht erkennbare Handschrift, sein Stil ist konsequent, seine Romanhelden meist friedliche, unauffällige, etwas wunderliche, introvertierte Zeitgenossen, welche die Einsamkeit der Gesellschaft anderer Menschen vorziehen.
Tsukuru Tazaki ist 36, lebt in Tokio, führt dort ein unspektakuläres Dasein als Bahnhofsingenieur. Emotionen und Leidenschaften gibt es in seinem Alltag nicht, und er versucht Freundschaften weitestgehend zu vermeiden, erlebte er doch vor etwa 16 Jahren etwas, das sein Leben völlig erschütterte und ihn damals bis an den Rand des Selbstmordes trieb:
Tsukuru war jahrelang Teil einer fünfköpfigen Clique - man könnte eher sagen, einer verschworenen Gemeinschaft, eines geschlossenen Kreises, einer vollkommenen Gruppe, deren Verhältnis weit über das Level gewöhnlicher Jugendfreundschaft hinausgeht. Drei junge Männer und zwei junge Frauen, die gemeinsam die letzten Jahre ihrer Oberschulzeit verbringen. Tsukuru, der als einziger in der Clique keine "Farbe" in seinem Namen trägt (aus dem Japanischen übersetzt stellen die Namen seiner Freunde alle eine Farbe dar) und seiner Ansicht nach auch sonst über kein besonderes Talent verfügt, verlässt nach dem Schulabschluss die gemeinsame Heimatstadt Nagoya und beginnt in Tokio sein Studium. Trotzdem besucht er seine vier Freunde dort, wann immer es ihm möglich ist.
Als er nach dem Ende seines ersten Studienjahres einmal wieder nach Nagoya zurückkehrt, passiert etwas für ihn völlig Unbegreifliches: Die vier brechen den Kontakt zu ihm plötzlich, unerwartet und ohne Erklärung völlig ab. Alles, was Tsukuru erhält ist ein Anruf mit den Worten, er solle sich nie wieder bei ihnen blicken lassen - er wisse schon, warum.
Doch Tsukuru weiß es nicht. Und in seiner Fassungslosigkeit über den für ihn grundlosen Freundschaftsbruch fällt er in ein tiefes Loch der Verzweiflung. Innerhalb von wenigen Monaten verändert er sich innerlich und äußerlich und wird zu einer leblosen, depressiven, abgestumpften Menschenhülle.
Er aktiviert das letzte Bisschen seines Lebenswillens, um sein Studium erfolgreich zu absolvieren und später in seiner Arbeit völlig aufzugehen. So besteht sein Leben schließlich nur noch aus Arbeiten, nach Feierabend und an Wochenenden Schwimmen gehen, essen, trinken, schlafen.
Bis er viel später die zwei Jahre ältere Sara kennenlernt, und sich das erste Mal seit langem - eigentlich das erste Mal überhaupt in seinem Leben - verliebt.
Auch Sara fühlt sich zu Tsukuru hingezogen, spürt jedoch instinktiv, dass er tief in seinem Inneren eine Verletzung mit sich herumträgt, deren Ursprung weit in seiner Vergangenheit liegt.
Tsukuru erzählt Sara seine Geschichte. Für Sara ist es unbegreiflich, das Tsukuru das Erlebte all die Jahre akzeptiert hat, ohne sich je auf die Suche nach den wahren Hintergründen des Verhaltens seiner Freunde zu machen.
Tsukuru lässt sich schließlich von seiner klugen, impulsiven Freundin überreden, diese Suche anzutreten.
Mit ihrer Hilfe findet er heraus, was aus den vieren mittlerweile geworden ist und begibt sich auf eine Reise, die ihn bis nach Finnland führt - alles, um die bösen Geister seiner Vergangenheit endlich auszulöschen...
Ein wirklich schönes Buch, auch wenn es meiner Meinung nach nicht der beste Roman Murakamis ist - denn in bisher all seinen Geschichten gab es gegen Ende nochmal diesen Augenblick, diesen Moment, wo man die Luft anhalten musste, einen ganz entscheidenden Höhe- oder Wendepunkt der Story (klar, natürlich ohne Super-Mega-Action... wer Action sucht, darf keinen Murakami lesen).
Aber diesen Augenblick habe ich diesmal vermisst.
Ja, Murakami lässt am Ende seiner Bücher immer viele Fragen offen und gibt seinen Lesern viel Freiraum zum Interpretieren, Weiterdenken, Grübeln, Philosophieren.
Aber von einigen offenen Fragen hätte ich mir in den "Pilgerjahren des farblosen Herrn Tazaki" gewünscht, dass er sie mir vielleicht doch beantwortet hätte.
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