Donnerstag, 24. November 2016

Die Einhornisierung des Abendlandes.


Es gibt da doch dieses pferdeähnliche Fantasiegeschöpf, ihr wisst schon, das mit diesem langen dünnen eiswaffelförmigen Dingens auf der Stirn...
Dieses Geschöpf kritzelte und malte ich schon als 8jährige überall hin, und in Poesiealben oder Schulfreundebüchern, unter den Fragen "Was ist dein Lieblingstier?" oder "Was für ein Haustier hättest du gerne?", gehörte es natürlich zu meiner Standardantwort: "Einhorn". Gleich neben Pferd, Elefant und Wildgans (Nils Holgersson lässt grüßen).

Dabei lernte ich Einhörner zunächst als düstere, geheimnisvolle, mysteriöse, trotzdem irgendwie faszinierende Wesen kennen...den Pferden so ähnlich und doch ganz anders. Trotzdem wollte ich Das Letzte Einhorn lange nicht gucken. Der Film war mir einfach zu gruselig.
Als ich ihn doch irgendwann sah, war es völlig um mich geschehen. Hach, was war das doch für ein elegantes, zartes, zerbrechliches und doch so machtvolles und wunderschönes...nunja, wie auch immer, es gehörte als pferdeaffine Halbwüchsige für mich jedenfalls zum Pflichtprogramm, Einhörner toll zu finden.

Viele, viele Jahre später - lange nachdem Das Letzte Einhorn und seine Artgenossen sprichwörtlich von der Bildfläche verschwanden und nur noch als Randfiguren in Kinderbüchern, Märchenfilmen und auf kitschigen rosa Umhängetaschen für Schulmädchen zu finden waren - tauchten sie plötzlich wieder auf. Ich glaube, es war im allerersten Harry Potter Film, als ich bewusst wieder ein Einhorn in einer Hollywood-Filmproduktion wahrnahm (Einhornblut macht unsterblich? Wusste ich gar nicht. Wow.).

Ab hier fehlen mir chronologische Belege. Es sei nur soviel gesagt: Ich wurde zum amüsierten Beobachter eines unterhaltsamen Phänomenes.
Einhörner in der Fernsehwerbung. Einhörner auf Kleidungsstücken. Einhörner auf Tassen und Tellern. Einhornförmige Accessoires - Schmuck, Lampen, Hausschuhe, Socken, Unterwäsche. Einhörner in noch mehr Filmen. Ey, super! Ein Stück meiner Kindheit war wieder auferstanden, ich fand es genial und verfiel dem beginnenden Kaufwahn.
Und jeder, der irgendwas mit Einhörnern sah, dachte sofort an Frau Mi - so bekam ich Einhorndinge zum Geburtstag, Einhorndinge einfach mal so, Einhorndinge per Mail, Einhorndinge auf Facebook, Einhorndinge per Post. JUHU!!
Ich rannte an meinem Junggesellinenabschied in einem Einhorn-Jumpsuit durch die Heidelberger Altstadt.
All diese Mitbringsel, Geschenke und Erinnerungsstücke liebte ich und liebe sie auch heute noch.

"Be yourself unless you can be a unicorn - then always be a unicorn." Diesen Spruch lieh ich mir mal als Überschrift für eins meiner Blogpostings im Februar 2013 aus. Inhalt des Postings waren persönliche Best-Of-Einhornbilder, die ich im Netz erstöbert hatte. Das Posting gehört heute zu den meist angeklickten Beiträgen meines Blogs.

Wie schon gesagt: Ich war amüsierter Beobachter eines unterhaltsamen Phänomenes... ohne zu wissen, dass dies nur die Vorstufe der "Einhornisierung des Abendlandes" war.
Einhorn-Jumpsuits wurden vielerorts zum Pflichtoutfit für "ausgeflippte" Mottoparties oder Festivals, es gab überteuerte Smoothies, die sich "Einhornkotze" nannten, und süße, bunte Liköre hießen plötzlich "Einhornpipi"- trotzdem war man immer noch ein bisschen independent, wenn man sowas kaufte und trank.
Richtig ausgefallenen Einhornkram musste man sich noch über amerikanische oder asiatische Onlineshops bestellen.

Dann verkaufte jeder Klamottenladen plötzlich T-Shirts mit dem Aufdruck "Be yourself unless you can be a unicorn - then always be a unicorn." für 10 Euro das Stück.
Bilder und Sprüche wiederholten sich auf Postkarten, immer und immer wieder.
Einhörner wurden fetter und pummeliger, pupsten Regenbögen, die nach Zuckerwatte riechen und Sternchen, die nach Regenbögenpüpsen riechen. Plötzlich musste überall "Einhorn" draufstehen, damit es superfancy war.

In diesem Augenblick begriff ich es: Das geheimnisumwobene, edle und zierliche Lieblingsfabelwesen meiner Kindheit hatte sich in ein dickes, niedliches, regenbogenfarbenes Konsumobjekt verwandelt.

Natürlich erwische ich mich ständig dabei, wie ich denke "Mist, hättest du dir doch mal lieber die limitierte Einhornschokolade im Onlineshop bestellt" - dann sehe ich, dass die vergriffenen Tafeln auf eBay für 20 Euro aufwärts versteigert werden und frage mich, ob bei diesen Leuten gerade der Dachstuhl des gesunden Menschenverstandes brennt.
Oder gestern zum Beispiel. Gestern bin ich ne halbe Stunde durch den Drogeriemarkt gelaufen, um das neue Regenbogenduschgel zu suchen, einfach um mal "probezuschnuppern" - dann erfahre ich, dass es noch nicht angeliefert wurde und schon jetzt mit erhöhter Nachfrage gerechnet wird, und...da brauch ich gar nicht mehr hingehen, weil heute wahrscheinlich schon die Regale leergekauft sind.

Meine Prognose: Bei der aktuellen Intensität wird der Einhorn-Hype sehr schnell ein Ende finden. Erinnert Euch an die Eulen. Eulensachen gab's vor wenigen Jahren überall zu kaufen. Heute stehen sie nur noch bei den reduzierten Restposten im 1-Euro-Shop. Füchse und Hirsche sind ja ebenfalls schon gefährdet.
Und nach den Waldtieren erwischt es jetzt die Fabelwesen. Also, Ihr Meerjungfrau-Fans aus den frühen 90ern, sucht schon mal in den elterlichen Kellerräumen nach Eurer Arielle-Pausenbrotdose. Die könnt Ihr bald teuer im Internet verkloppen!

Aber wie wird es wirklich weitergehen?
Werde ich nur noch müde belächelt, wenn ich nächstes Jahr um diese Zeit mit meiner Einhorntasche auf der Straße rumlaufe? Wenn es augenrollend heißt "boaaaahdasistsoooozweitausendsechzehney!" oder "Guck mal, die Alte hat's scheinbar auch noch nicht mitbekommen..."
Nein, liebes Kind. Werde ich sagen.
Unicorn Lover since 1989.
In guten wie in schlechten Zeiten.